Herzfaden. Als ich den Titel das erste Mal sah, wollte ich das Buch sofort lesen, so ansprechend fand ich ihn. Da wusste ich noch nicht einmal, dass es sich um einen Roman über die Augsburger Puppenkiste handelt. Und über die wusste ich herzlich wenig, wohl weil ich auf der anderen Seite des Landes aufgewachsen war. Dabei ist die Augsburger Puppenkiste, seit Jim Knopf 1953 auf den Fernsehbildschirmen erschien, auch ein Stück deutsche Geschichte. Dass das Buch auf der Shortlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis stand, machte mich einmal mehr neugierig.
Geschrieben wurde „Herzfaden“ von Thomas Hettche und laut Kiepenheuer&Witsch, dem veröffentlichenden Verlag, ist es „ein großer Roman über ein kleines Theater“.
Ein zwölfjähriges Mädchen gerät nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste durch eine verborgene Tür auf einen Dachboden, wo Prinzessin Li Si, der klappernde Tod, Kater Mikesch und ein sprechender Storch auf es warten. Vor allem aber trifft es auf jene Frau, die all diese Marionetten geschnitzt hat und nun ihre Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte eines einmaligen Theaters und der Familie, die es gegründet und berühmt gemacht hat.
Sie beginnt im Zweiten Weltkrieg, als Walter Oehmichen, ein Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, für seine kleinen Töchter eine Marionettenbühne baut. Die ersten Figuren fertigt er an der Front an, wo er neben all dem Leid und Schrecken auch die heilsame Kraft des Puppenspiels erfährt: „Es war ganz anders als im richtigen Theater. Ich hatte die Puppen aus allem zusammengebaut, was sich eben finden ließ, klapprige Dinger waren das, ganz unansehnlich, mit ein paar Stofffetzen behangen. Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvolle Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wieder zu Kindern. Es kam mir so vor, als wäre mir das als Schauspieler auf der Bühne niemals so gut gelungen.“
Über seine Erfahrungen im Krieg spricht er nicht, aber seine Vision ist geboren. Er will sich um die kriegsversehrten Seelen der Kinder und Erwachsenen kümmern, indem er Theater mit Puppen macht, die mit Hilfe von Fäden bewegt werden. Der wichtigste Faden dabei, so lehrt er seine Töchter, sei der Herzfaden: „Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.“
Walter und seine Familie bauen zuerst eine erste kleine Bühne auf, den „Puppenschrein“, der in der Bombennacht, die 1944 Augsburg zerstört, zu Schutt und Asche verbrennt. Nach dem Krieg ist es vor allem seine jüngere Tochter Hannelore, genannt Hatü, die das Puppentheater wieder auferstehen lässt und all die bekannten Marionetten schnitzt. So wird der ehemalige Puppenschrein 1948 als „Augsburger Puppenkiste“ wiedereröffnet und die klassischen Märchen, die zunächst auf die Bühne gebracht werden, berühren die Menschen von Anfang an. Der endgültige Durchbruch gelingt 1951 mit „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry, einem zeitgenössischen Stück, das mehr mit der Gegenwart des jungen Ensembles um Hatü zu tun hat.
Zwei Jahre später ist es wieder ein moderner Autor, Michael Ende, der den Stoff für die nächste Erfolgsgeschichte liefert, und am 21. Januar 1953, zwanzig Tage nach der ersten offiziellen Ausstrahlung des deutschen Fernsehens geht die Augsburger Puppenkiste mit „Jim Knopf“ auf Sendung.
Michael Ende ist es auch, der am Ende des Buches formuliert, warum wir Bücher, Geschichten und – ja – auch Puppen brauchen: „Wissen Sie: In jedem Menschen lebt ein Kind, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig. Und dieses Kind, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft, dieses Kind in uns bedeutet bis zu unserem letzten Lebenstag unsere Zukunft.“
Heute ist die Welt noch immer kein friedlicher Ort, die Seelen der Menschen sind nach wie vor geschunden. Was kann Puppentheater da schon bewirken?
Vielleicht kann es uns spüren lassen, dass wir diesen unverwundbaren Kern in uns haben, der an das Gute glaubt, das Gute will und zur Liebe strebt. Es mag nur ein dünner Faden sein. Aber er hält.
Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste, Kiepenheuer&Witsch, ISBN: 978 3 462 05256 5, 24 Euro.
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