9. Juni 2020

Interview und Erlebnisbericht: „Im Spiel mit der Puppe kann ich Brücken bauen“

Anfang des Jahres legte mir jemand einen wahren Schatz in die Hände. Dieser Jemand war Regine Holletz und der Schatz ihre Abschlussarbeit zur Ausbildung als Waldorfkindergärtnerin. Der Titel lautete: „Das Ich entsteht am Du. Die Begegnung des Menschen mit (s)einer Puppe“, genau mein Thema.

Das Lesen schenkte mir so viel Wohlgefühl, neues Wissen und ein großes, warmes Ja – immer wieder Ja – zu Puppen und Puppenmachen, dass ich Regine und ihre Arbeit unbedingt hier vorstellen wollte. Dafür durfte ich ihr ein paar Fragen stellen und erhielt auch die Erlaubnis, einen Auszug aus ihrer Arbeit zu teilen.

Die Begegnung von Mensch und Puppe – meine Fragen an Regine

Liebe Regine, bitte erzähle uns von deinem Werdegang zur Waldorfkindergärtnerin. Was gefällt dir an diesem Beruf? 

Eine ganze Zeit meines Lebens war ich Lebensmittelchemikerin. Das faszinierte mich und immer lag mir die Zusammenarbeit mit Menschen am Herzen. Konnte ich im Labor oder in einem Projektteam einem Menschen Gutes tun, war es neben allem fachlichen Tun ein besonderer Tag. Mit Familiengründung sahen die Dinge für mich noch einmal ganz anders aus und viele leise Stimmen in mir wurden immer lauter und manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Welt der chemischen Industrie zu einem großen Teil kopfsteht. Ich wollte ein Stück Welt zurück auf die Füße stellen und ganz elementar mit ihr verbunden bleiben. Da wurde eine alte Sehnsucht wach, nämlich Kindergärtnerin zu werden. Ich hatte die Montessoripädagogik studiert und wollte unbedingt Waldorfkindergärtnerin werden, mich interessierte das Ganze, das Verbindende.

Ganz leise hatten verschiedene Zeichen immer wieder meinen Lebensweg gekreuzt, ohne dass ich wusste, dass sie der Waldorfpädagogik entspringen. So hatte mir eine Freundin während des Chemiestudiums ein gestricktes Schaf geschenkt, das mir bis heute ein täglicher Begleiter ist. Ich begann über Waldorfpädagogik zu lesen und hatte oftmals das sichere Gefühl, hier Herzensdinge zu finden, die mich schon als Kind tief bewegt hatten. Viele Sinneserlebnisse von damals fand ich nun in der anthroposophischen Literatur beschrieben. Das war für mich wie ein Nach-Hause-Kommen.

An der Waldorfpädagogik liebe ich, immer vom Kind aus zu schauen und zu fühlen, den Gesetzmäßigkeiten der Jahrsiebte nachzugehen, hinter das Wahrgenommene zu denken und zu fühlen und das Herz und ein waches Denken in Kooperation zu pflegen. In einer wesenhaften und wesentlichen Umgebung mit sinnlich sinnvoll ausgewählten Materialien empfinde ich die Stimmung, die ich in der Natur erlebe, im Raum gestalterisch nach und schaffe damit Sinn- und Seelenbilder, die dem Kind ein echtes Aufgehobensein vermitteln können. Und tagtäglich erinnere ich durch die Gestaltung des Tagesrhythmus daran, wie wichtig ein Ein- und Ausatmen im täglichen Leben ist, der Wechsel von Aktivität und Ruhe sowohl für die Kinder als auch uns Erwachsene. Diesen Rhythmus auch in der Wiederkehr von Jahresfesten, Liedern, Reigen, Spielen und Reimen zu pflegen, ist mir ein Herzensanliegen.

Manchmal – und ich gestehe immer öfter – fühle ich mich, als würde ich Ureigentliches der Kindheit bewahren und auch in der Begleitung der Familien dazu beitragen, dass die Eltern sich durch den Blick auf ihr Kind und sein Wachsen erinnern lassen an Langsamkeit, herzvolles Schauen, Lassen und Vertrauen. Als Waldorfkindergärtnerin bin ich Entwicklungshelferin, Sinnespflegerin, Trösterin, auch Künstlerin im Gestalten, Singen, Reimen, bin ich Lauschende, Wissende und Nicht-Wissende, ich bin mit Kindern und Eltern immer auch als Lernende auf dem Weg.

Wie bist du auf das Thema für deine Abschlussarbeit gekommen? Was war dein Interesse, was wolltest du in die Welt bringen? 

Wenn ich auf die Kinder schaue, bin ich voller Bewunderung, wie sie allzeit lernen und sich ihre Umwelt an-verwandeln. Alles, was sich ihnen ideell und dinglich bietet, wird Teil ihres Spiels. Auch wir Erwachsenen sind bedeutender Teil dieser Umwelt und sie ahmen uns und unser Tun in ihrem Spiel nach. Es sind die ganz einfachen Dinge, welche die kindliche Phantasie beflügeln. All ihr Tun ist wie ein unermüdliches Tasten hin in eine tiefe Verbundenheit zu den Menschen und zur Welt.

Immer wieder bin ich dabei von der Begegnung der Kinder mit einer oder ihrer Puppe tief berührt. Stundenlang spielen sie mit ihr das Leben und finden in ihr einen innigen Begleiter. Es ist, als würde sich in der Begegnung mit der Puppe eine Welt erschließen, aus der die Kinder kommen und von der sie ahnend noch wissen.

„Ohne Puppen gäbe es weniger Liebe auf der Welt“, dieser Satz von Elke Blattmann beschäftigt mich immer wieder und ich kann ihn nur bestätigen. Ich habe erlebt, wie seelenvoll Eltern mit Blick auf das Spiel mit der Puppe aus ihrem Leben berichten und sich in ihrem Wesen zeigen.

Als Kindergärtnerin und auch als Puppenmacherin erfahre ich immer wieder die Atmosphäre, die entsteht, wenn Menschen sich die Zeit nehmen, für ein Kind oder sich selbst eine Puppe zu nähen. Hier entsteht kein Ding zum Spielen sondern ein Schatz, es entsteht die Möglichkeit, im Nähen einer Puppe dem Kind (und bei den Großen dem inneren Kind) besonders nahe zu kommen. In der Sorgfalt der handwerklichen Ausführung liegt ein tiefer Seelenausdruck des Herstellenden, eigentlich Gebärenden und gleichzeitig des Kindes, dem die Puppe zugedacht ist.

Was geschieht in der Begegnung von Mensch und Puppe? Dem wollte ich in meiner Arbeit nachgehen, dazu im Leben und der Literatur forschen.

Die Puppe ist Spielzeug des Kindes, Spiegel seiner selbst und ein Symbol für die Entwicklung des Menschen. Ich beobachte, wie Kindheit sich verändert, wie Kinder sich einerseits vollkommen ins Spiel vertiefen können und andere kaum mehr ins Spiel finden. Wie tief berührend die Begegnungen mit der eigenen Puppe sein können, erlebe ich im Spiel mit den Kindern, mit Erwachsenen und auch ich erlebte es nach schwerer Krankheit sehr und seither immer wieder.

Ich halte es für lebenswichtig, solch innigliche Begegnungen zwischen Mensch und Puppe zu ermöglichen, aus denen der Mensch wortlos schöpfen kann.

Mein Anliegen war und ist, meinem Empfinden und diesen innigen Beobachtungen auf den Grund zu gehen. Wie kann mit dem Wissen um seine Heilsamkeit das Spiel mit der Puppe immer wieder belebt werden?

„Das Ich entsteht am Du“, so formulierte es Martin Buber und ich bin davon überzeugt, nicht nur am Gegenüber eines Menschen sondern auch in seinem Spiegelbild, in der Puppe, einer Puppe, die die Phantasiekräfte nährt, an der sich der Mensch, das Kind ent-wickeln kann.

Ich wage zu behaupten, dass Kindheit und Erziehung eine Puppe brauchen, die nicht nur ein Ding zum Spielen, sondern ein Teil der Familie ist. Das Kind sucht danach, bei sich anzukommen und jedes Kind spürt, dass in der Berührung mit der Puppe eine größere Verwandtschaft lebt.

Im Spiel mit der Puppe liegt, so meine ich, auch etwas zutiefst Religiöses. In dem Anderen und hier in der Puppe einen Schimmer des göttlichen Kerns, des Unvergänglichen zu erleben, nährt zutiefst unser Urvertrauen. Das brauchen wir Menschen, das brauchen unsere Kinder, um aus diesem Tiefen genährt sein und sich gehalten wissen, in Liebe auf sich und die Welt schauen zu können.

Was macht für dich das Spiel mit den Puppen so besonders und wie setzt du das in deiner Arbeit mit den Kindern um? 

Ich erlebe Kindheit heute oft als ein zu viel, zu früh, zu schnell. Kindheit findet häufig außerhalb des Zuhauses und organisiert statt, so dass die Kinder zu Konsumenten werden. In dieser Schnelligkeit wird dem Kind oft ein Kuscheltier als Tröster mitgegeben, ein Tier, ein Bär, und da fehlt etwas, da kann etwas verloren gehen, ähnlich einem Artensterben.

Es ist keine Rückbezüglichkeit, es ist die Sehnsucht, an das Urbild von Mütterlichkeit (für Mädchen und Jungen!) und Zuwendung zu erinnern und die Liebe zu einem Puppenkind zu wecken und zu pflegen. Innezuhalten – und dies auch als Mutter, Vater, Freundin … – und zu fühlen, was es bedeutet, Mütterlichkeit und Zuwendung zu pflegen, das allein ist schon Heilung.

Kindheit ist die Zeit der Geheimnisse, der Seelennahrung, um die Welt in ihren Facetten lesen zu lernen. Und alle Eindrücke im ersten Jahrsiebt sind Ein-Drücke für das Kind, sie wirken bis ins Innerste. Grundbedürfnisse des kleinen Kindes sind es, Geborgenheit zu finden, einen, der es liebt und der das Leben liebt, und eine leibliche Heimat, es möchte anerkannt werden und lernen.

Ermöglichen wir dem Kind das Spiel mit einer Puppe aus Naturmaterialien, liebevoll zurückhaltend gestaltet, dann wird es die Puppe beseelen und in sein Herz schließen. Diese Puppe wird ein stiller Begleiter werden können, einer, den das Kind liebt und von dem das Kind geliebt wird. Ich erlebe, wie die Kinder durch die Puppe sprechen, wie sie im Spiel mit der Puppe zeigen, wie es ihnen geht. Wenn ich als Kindergärtnerin diese Erfahrungsräume öffne, Zeit lasse und Raum lasse, wirklich lasse, dann spielt das Kind mit seiner Puppe. Das ist wie ein Zauber: das Kind beseelt die Puppe und die Puppe belebt das Kind in seinem tastenden Spiel; es erwacht.

Oft erlebe ich auch unruhige Kinder, die sich nur schwer aufs Spiel einlassen können und Kontakt finden. Wenn ich dann durch eine Puppe spreche (sanft, kein Kasperltheater!), dann findet Seelenbegegnung statt, dann wird durch diese Geste etwas Großes jenseits dessen berührt, was Worte ermöglichen. Leise öffnet sich die Kinderseele wie eine Knospe. In Ablöseprozessen, bei Übergängen, auch da kann die Puppe eine wirkliche Wegbegleiterin sein.

Das Spiel mit der Puppe ist wesentlicher Teil der sinnlichen Umgebung im Waldorfkindergarten. Die Puppenecke braucht Pflege und sie strahlt in den Raum aus. Es ist sogar so, dass vergessene Puppen im Kindergarten auch atmosphärisch verraten, wie es den Menschen dort gerade geht. Wenn sie Heilung brauchen, dann kann sie auch aus der Puppenecke kommen.

Im Spiel mit der Puppe, immer dem Kind abgelauscht, kann ich Brücken bauen zu der Welt, aus der das Kind kommt, seiner häuslichen und der himmlischen. Das Kind kann tätig werden und durch sein Tun sich selbst erfahren, Selbst-Vertrauen entwickeln. Wenn es Konflikte gibt – und die können sich heftig im Spiel mit der Puppe ausdrücken -, dann ist es Heilungsarbeit, die da geschieht, spielend und in aller Freiheit.

So viel zum Interview, es folgt ein Auszug aus Regines Abschlussarbeit, den man auch als Praxisteil bezeichnen könnte. Es geht darin um die Frage, wie mit dem Wissen um seine Heilbarkeit das Spiel mit der Puppe immer wieder neu belebt werden kann. Regine erzählt aus ihrem Alltag als Kindergärtnerin.

Pflege des Spiels mit der Puppe im Kindergarten – Auszug aus Regines Arbeit

Die Puppe ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens in einem Waldorfkindergarten. Es ist eine besondere Aufgabe, als Kindergärtnerin dieses Spiel mit der Puppe in der Gruppe der Kinder immer wieder zu beleben und auch die Eltern und Familien zu inspirieren, die Puppe des Kindes nicht nur ein Spielzeug sein sondern ein Teil der Familie werden zu lassen.

Situationsbeschreibung

Die Kindergartengruppe besteht aus zwölf Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren, sieben Jungen und fünf Mädchen. Zu Beginn des Kindergartenjahres wurden sieben Kinder neu in die Gruppe aufgenommen. Die mit dem Gruppenleben vertrauten Kinder aus dem Vorjahr waren zu diesem Zeitpunkt in der Regel vier bis fünf Jahre alt. Es stellte sich schnell heraus, dass den neuen Kindern Vorbilder zur spielerischen Nachahmung fehlten und sie nicht von einer gefügten Gruppenstruktur zehren konnten. Die Gruppe war eine bunte Mischung aus einzelnen sehr unterschiedlich bedürftigen Kindern, die zu einem Drittel gerade drei Jahre geworden waren. Bis zu Weihnachten waren drei anstelle der sonst tätigen zwei Kindergärtnerinnen nötig, um ein Ankommen und das Zusammenwachsen einer neuen Gruppe gestalten zu können.

Selten ergaben sich Situationen, in denen die Kinder über längere Zeit versunken in ihr Spiel eintauchten. Nur kurzzeitig wurden Spielideen umgesetzt, während die jüngsten aus sicherer Entfernung zuschauten, besonders unruhige Kinder rastlos durch den Raum zogen und die anderen störten. Es brauchte drei liebevoll wache Pädagogen, die Tag für Tag Räume und Rituale schufen, die die Kinder wiedererkannten. Auf diese Weise entwickelte sich ein Gruppenleben, das atmen konnte, wo jedes Kind mit aller anfänglichen Unruhe einen Platz fand, an dem es gesehen wurde und sich entwickeln konnte. Dazu gehörte vor allem auch die Klärung der wichtigen Frage unter den drei Kolleginnen, was wir uns für die Gruppe wünschten. Das Gruppenleben musste ganz bewusst neu belebt und gehalten werden, da es keine „großen“ Kinder gab, die durch ihr Vorbild eine Fortsetzung der gelebten Traditionen boten.

Zur Zeit ist zu beobachten, dass die Kinder Höhlen bauen, Wege konstruieren, Türme entwerfen, Tiger und andere wilde Tiere sind, doch nur ganz selten im Puppenhaus ins Puppenspiel vertieft sind. Anfangs war das Puppenhaus Rückzugsort, der von den Jüngsten wechselseitig genutzt wurde. Mir fiel auf, dass die älteren Kinder das Puppenhaus eher mit Brettern und Tüchern zu Höhlen und Hochständen umbauten oder als Versteck nutzen, das relativ schnell im Streit wieder aufgelöst wurde.

In der Begleitung des morgendlichen Ankommens konnte unsere Puppe Pauline manchmal Retter in der Not sein. Sie half bei der Ablösung der Kinder von ihren Eltern oder diente als Tröster, nachdem sich ein Junge nur im Streit von seinem Vater verabschieden konnte und weinend keine Ruhe fand. Erst war es die Murmel in seiner Hand und dann die Puppe in seinem Arm, die ihn wieder bei sich ankommen ließ. Einer unserer Vierjährigen ist immer am Beobachten, Fragen und Nachdenken zu allem was geschieht. Es fällt ihm sehr schwer, sphärisch einzutauchen und dem Spiel selbstvergessen zu folgen. Ich versuchte, ihm immer wieder unsere große Puppe mitzugeben. Doch die Hingabe ans Puppenkind gelang nur sporadisch.

Das Spiel mit der Puppe liegt mir sehr am Herzen und ich spürte immer wieder, dass es vor allem auch die Puppen sein könnten, die unserer so bunten und oft unruhigen Kinderschar Frieden und Wurzeln schenken könnten. Ich entschloss mich, das Leben mit unseren Puppen Pauline und Nicki (beides Gliederpuppen) und Lars, Lotti und Mia (Puppen in fest sitzendem Anzug) wiederzubeleben bzw. zu erforschen, was fehlte, damit das Puppenleben aufleben konnte. Hinzu kam, dass während des letzten Elternabends eine Mutter von ihrer Tochter berichtete und sie als liebevollste und ausdauernde Puppenmama beschrieb. Was brauchte sie im Kindergarten, um auch dort das Spiel mit den Puppen leben zu können?

Was konnte ich tun, um unsere Puppen wirklich wieder Teil unserer Gruppe werden zu lassen?

An einem Tag setzte ich mich selbst ohne die Kinder ins Puppenspielhaus. Der Platz fühlte sich eng, schmal und ein wenig bedrückend an. Der Stoff, der als Himmel die beiden Spielständer links und rechts sowie die hintere Wand umspannte, hing so tief, dass schon unsere vier- bis fünfjährigen Kinder kaum aufrecht stehen konnten. Das wunderschöne Puppengeschirr war zu einem Teil kaputt und unsere Puppen schauten mich ein wenig müde aus ihren Bettchen an. Der Puppenschrank war voller Sachen ohne eine erkennbare Ordnung. Ich entschloss mich, dass es Zeit wurde, die Puppen verreisen zu lassen und dem Puppenspielhaus eine Frühjahrskur zu gönnen.

Die Puppen verreisen und Vorbereitungen während der Abwesenheit

An einem Freitag der Osterzeit saßen im Mittagskreis die Puppen beieinander und wir setzten uns dazu. Die Kinder betraten den Raum und Y., ein sehr sensibles Kind, setzte sich sofort zum Puppenwagen. Voller Andacht nahm er Platz und wollte diesen Platz nicht wieder verlassen. Ich erzählte den Kindern die Geschichte von der anstehenden Reise unserer Puppen. Sie waren erschöpft vom langen Winter und hatten Sehnsucht nach dem Frühling und dem Meer. Oft waren sie krank gewesen, doch konnten sie sich lange nicht zu einer Reise entschließen, da sie die Kinder nicht allein lassen wollten. Nun war es so weit, sie wollten eine Freundin am Meer besuchen und dann gestärkt zu den Kindern zurückkehren. Wir zogen die Puppen warm an, setzten sie in den Puppenwagen, sangen ihnen einen Reisesegen und wünschten ihnen viel Glück. Ich war erstaunt, wie fasziniert die Kinder der Geschichte folgten. Gedanklich schienen alle kurz dem Alltag enthoben und voller guter Wünsche für die Reisenden zu sein.

Das Puppenspielhaus stand nun leer. Ein paar Tage später bemerkte eines der Kinder, dass ja eine Puppe doch dageblieben sei. Eine Knotenpuppe lag noch in der Hängematte. Sie hatte die Abreise verschlafen und uns wurde auf diese Weise gezeigt, wie gleichwertig die aus einem Wolltuch geknotete Puppe den anderen ist.

Übers Wochenende nahm ich den Himmel ab, besserte ihn an zahlreichen Stellen aus, verstärkte ihn, um ihn dann höher und durch eine Kordel gehalten an der Wand und über den Spielständern anzubringen. Die Spielständer wurden vertauscht, da sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Größe auf diese Weise viel besser in die Ecke passten. Der neben dem Puppeneckchen stehende Jahreszeitentisch wurde ein Stück verschoben, so dass die beiden Spielständer nun in größerem Abstand die Ecke ausfüllen konnten. Das Puppeneckchen schien heller, weiträumiger, offener.

Ein zusätzlicher Spielständer erfüllte nun die Funktion des Tores und bei Öffnung des Hauses die Erweiterung des Hauses, Vergrößerung der Spielfläche und Schutz zum Gruppenraum. Jetzt konnte der Tisch gedeckt werden, man konnte um ihn herum sitzen und sich trotzdem noch im Puppenspielhaus bewegen. Der Puppenschrank wurde ausgeräumt, ein Knauf erneuert, die Magnete der Türen repariert und neu lackiert. Er stand nun nicht mehr auf dem Boden, sondern hing an der Wand, was die Spielfläche im Haus deutlich vergrößerte. Die Puppensachen wurden mit den Kindern in Winter- und Sommersachen sortiert, kaputte Sachen kamen in ein separates Körbchen, um sie auszubessern.

Nach einer guten Woche erhielten die Kinder Post von den Puppen. Eine Postkarte vom Meer ging im Morgenkreis von Hand zu Hand, wurde vorgelesen und bewundert. Wir ließen den Kindern Zeit herauszufinden, wer uns da geschrieben hatte. Alle Puppen hatten ja unterschrieben und versprochen, in der folgenden Woche wieder nach Hause zu kommen. Ganz ungeplant fand diese Postkarte einen Ehrenplatz im Puppenhaus über dem neu aufgehängten Puppenschrank. Nun begannen die Kinder, Staub zu wischen, die Bettwäsche zu sichten, und es wurde beschlossen, sie zu waschen und auszubessern. Vor Ankunft der Puppen waren alle Körbchen mit frischer Wäsche wieder eingerichtet.

Die Puppen waren ans Meer gereist und hatten bei mir heimlich eine Pause gemacht. Sie wurden gewaschen, Augen und Mund überarbeitet, genäht wo nötig, erhielten rosige Wangen und erstrahlten in ihren frischen Sachen. Die bestickten Kissen im Körbchen wurden repariert und alle Puppen saßen dann rosig und lebendig wieder im Wagen und traten ihre Weiterreise an. Immer wenn ich an ihnen arbeitete, gesellte sich eins meiner Kinder friedlich dazu und ließ sich andächtig in die Geschichte einbeziehen. Eines Tages gab es ausgiebigen Streit zwischen der acht- und elfjährigen und ich brauchte dringend Unterstützung, die Puppen wieder anzukleiden. Sie willigten ein, und ich war erneut sehr fasziniert, wie schnell aller Unmut vergessen war, als die Puppen in den Armen lagen und der Blick auf sie gerichtet war.

Ankommen und Spielen mit den Puppen

Fast zwei Wochen waren unsere Puppen nun verreist, und sie hatten ihre Rückkehr auf der Postkarte angekündigt. Wann sie genau kommen würden, blieb unklar. Das lichtere und größere Puppenspieleckchen wurde eifrig bespielt und schien in seiner überarbeiteten Form unkommentiert angenommen worden zu sein.

Die Kinder unserer Gruppe waren zum Ausflug unterwegs und sollten zum Mittag zurück sein. Im Mittagskreis saßen die Puppen, sie hatten ein Körbchen mit kleinen Kuchen mitgebracht und eine schöne Schachtel, deren Inhalt ein Geheimnis war. Ich begrüßte die Kinder vor dem Raum mit einem Öltröpfchen und einem Puppenabzählreim und kündigte ihnen eine große Überraschung an. Damit jeder aus der Gruppe später eine Puppe halten konnte, wurden noch zwei Knotenpuppen gebunden. Staunend und mit großer Freude betraten die Kinder den Raum und entdeckten unsere Puppen, die am Jahreszeitentisch auf uns warteten. Ein großer Teil der Kinder war voll stiller Bewunderung, andere strahlten und ein Junge bemerkte mit Blick auf die schöne Schachtel, da seien bestimmt die Engel drin, die dann jedes Kind aufhängen dürfte. Er erinnerte sich an die Adventszeit, und ich war ganz gerührt, wie sehr ihm diese Bilder Nahrung waren. Die Puppen erzählten Geschichten von ihrer Reise, wie erholsam es war, wie sehr sie sich auf die Kinder gefreut hatten, wie schön es am Meer war. Jede Puppe schlüpfte aus dem Wagen in den Arm eines Kindes. Manche nahmen sie sehnsüchtig an, andere andächtig, manche wünschten sich eine bestimmte Puppe, unser Jüngster, der oft beobachtend mit gewisser Distanz das Leben beobachtet und innerlich doch so verbunden ist, hatte sich geöffnet als die letzte Puppe aus dem Wagen zu den Kindern kam und bat sehnsüchtig mit den Augen, dass sie zu ihm kommen möge. Dies war Lisa, die Freundin am Meer, die die Puppen besucht hatten. Sie war so fasziniert von den Geschichten, die die Puppen von den Kindern erzählten, dass sie entschied, mit ihnen zu kommen. L. hielt liebevoll die Lisa auf seinem Schoß. Alle Kinder hatten nun ein Püppchen im Arm und wiegten es mehrmals zum Wiegenlied, das ich sang. Es entstand eine frohe getragene Stimmung und mit Blick in die seligen Kindergesichter, die wach träumend am Geschehen teilnahmen, schien es mir, dass die ganze Gruppe in dieser wiegenden Geste gehalten wurde. Unsere Zwillinge nannten ihre Puppe gleich „mein Püppchen“, C. schien wie träumend versunken als hätte sie etwas Heiliges empfangen. Ich war tief beeindruckt, wie liebevoll und selig jedes Kind, so unterschiedlich es auch ist, dieser Urgeste folgte. Anschließend, immer noch mit der Puppe im Arm, genossen alle den Duft der kleinen Küchlein, die die Puppen gebacken hatten und die es zum Nachtisch geben würde und letztlich wurde die geheimnisvolle Schachtel geöffnet. Alles war eingewickelt in Papier und jedes Kind durfte auspacken. Da gab es ein neues Puppengeschirr, das so wunderbar zum alten noch heilen Bestand passte. Ein großes Staunen wurde geteilt. J. war beim Auspacken und schaute immer wieder zu seiner Puppe, die jetzt am Jahreszeitentisch saß und sagte: „Da sitzt meine Puppe.“ Er wiederholte diesen Satz immer wieder mit Bewunderung und Stolz.

Nach dem Auspacken des Geschirrs setzten die Kinder nacheinander die Puppen zum Jahreszeitentisch in den Kreis und gingen zum Mittagessen. J., unser unruhiges Kind, lebte immer noch ganz eingetaucht ins Geschehene und fragte, ob er die Mia nachher mit zum Schlafen nehmen könnte. Nach dem Essen suchte jeder einen Platz für seine Puppe im Puppenhaus und zwei Kinder räumten vorsichtig das neue schöne Geschirr aufs Tischchen im Puppenhaus. Es lag eine Atmosphäre im Raum, die an den gerade erlebten Pfingstabschluss erinnerte. Etwas Heiliges, Lichtes und Frohes war in unserem Raum verblieben.

Die Kinder, der Raum und wir Kindergärtnerinnen waren durch unser Tun wie verzaubert.

Herzlichen Dank, liebe Regine, für deine Antworten und die Erlaubnis, diesen Auszug hier zu veröffentlichen. Was für eine Bereicherung für alle Menschen, die Puppen und Puppenmachen lieben.

Alles Liebe für dich und deine Arbeit als Kindergärtnerin, Puppenmacherin – und Schreibende, ich wünsche mir mehr aus deiner Feder!

in: Leute